Endlich wieder Minimalschuhe am Markt?

In den letzten Jahren ist es in der Laufanalyse für mich immer schwieriger geworden, Schuhe für das Erlernen einer guten Lauftechnik zu empfehlen.
Konkrete Modelle kann man ohnehin nicht vorgeben, da die Passform immer zum jeweiligen Fuß passen muss und da hilft als Läufer nur, durchzuprobieren und die eigene Wahrnehmung (sitzt der Schuh gut am Fuß und drückt nicht, rollt er subjektiv „leicht“ ab?) entscheiden zu lassen.
Aber man kann Schuhkategorien vorschlagen. Für das Entwickeln guter Fußkraft gemeinsam mit einem biomechanisch korrekten Fußauftritt ist ein minimalistischer Laufschuh zwar nicht Bedingung, aber er macht es weitaus einfacher. Je mehr Feedback (durch den Untergrund) der Fuß bekommt, desto schneller lernt man die Ansteuerung. Nicht vergessen darf man aber, dass je nach bisheriger Gewohnheit der Einsatz minimalistischer Schuhe dosiert (!) erfolgen muss, um sich nicht zu überlasten.
Langfristig ist den meisten Läufern nach entsprechend Kraftaufbau auch die ausschließliche Nutzung von Minimalschuhen möglich.

Doch das Problem war in den letzten Jahren ganz ein anderes – es gab schlichtweg keine Schuhauswahl mehr!
Nach und nach wurden die bisherigen „Racing-Flats“-Modelle auf dicke und federnde Sohlen umgestellt. Aber – nach und nach findet man wieder Minimalistisches am Markt.
Ich kenne die Modelle nicht alle (zumal mir selbst ja auch nicht alle Passformen zusagen), aber um schon mal ein paar Anregungen zu liefern, wo man suchen kann, hab ich eine kleine Liste (Stand August 2024) mit Beispielen zusammengestellt.

Meine Anforderungen an einen guten Minimalschuh sind:
•  Zehenbox der Fußform entsprechend (nicht spitz zulaufend, Breite je nach individueller Anatomie durchaus unterschiedlich)
•  dünnerer Sohlenaufbau, wenig Dämpfung, gute Vorfußflexibilität, meist auch geringe Torsionssteifigkeit (keine oder nur minimale Mittelfußbrücke)
•  geringe oder keine Sprengung (=Differenz zwischen Sohlendicke im Vorfußbereich und unter der Ferse)

Wofür nutze ich Minimalschuhe?

Ist man dicke Dämpfungssohlen gewohnt, so würde ich mit wirklich kurzen Läufen von 3-5km beginnen (auch oder gerade dann, wenn man hohe Laufumfänge gewohnt ist!). Je nach Reaktion (Wadenmuskelkater) kann man dann nach und nach auf zwei oder mehr Laufeinheiten pro Woche ausdehnen. Leichter Muskelkater ist wie beim Lauftechniktraining ok, starke Verspannungen aber ein Warnzeichen, dass die Dosis zu hoch war. Hier braucht es vermehrt kürzere, aber regelmäßige Läufe in Minimalschuhen und eine ausgiebige „Wadenpflege“ (Faszienrolle und Dehnen schon vor (!) jedem Lauf).

Diese Läufe für den Fokus Lauftechniktraining („individuelle Checkliste“ aus der Laufanalyse, Fokus auf Fußauftritt, evtl. auch Steigerungsläufe und Lauf-ABC) zu nutzen, macht viel Sinn. Hat man die Bewegungsabläufe im Minimalschuh automatisiert, kann man sie nach und nach in stärker gedämpfte Schuhe „mitnehmen“.

Einen sehr großen Vorteil hat man hinsichtlich Stabilität im Gelände – besonders wichtig ist das bei Trailläufern, die gern einmal mit Supinationstraumen („Überknöcheln“) zu kämpfen haben. Je dichter der Fuß am Boden steht, desto geringer die Gefahr. Eine kleine Einschränkung gibt es aber hinsichtlich des Laufens in sehr steinigem Gelände – hier bietet sich eine leicht versteifte Sohle an, die zwar möglichst flach ist, aber nicht so weich, sodass sich keine spitzen Kanten schmerzhaft durchdrücken können.

Was ist der Unterschied zu Barfußschuhen?

Die Unterschiede sind fließend. Die ersten als „Barfußschuhe“ groß vermarkteten Laufschuhe waren die Nike Free – mit zwar extremer Flexibilität, aber doch viel Dämpfung und auch Sprengung. Mit einem Zehenschuh wie einem FiveFingers haben diese wenig gemein.
Tatsächlich kann man nicht nur als Laufschuhe verkaufte Sportschuhe zum Laufen verwenden, manche „Fitnessschuhe“ entsprechend durchaus dem, was ich mir unter einem minimalistischen Laufschuh vorstelle.
Allen gemeinsam ist: Je extremer der Unterschied zwischen bisher gewohntem Schuhwerk und dem neuen Paar, desto vorsichtiger muss man dosieren. Die Gewöhnung an echte „Barfußschuhe“ ist für viele sehr schwierig, während die Gewöhnung an minimalistische Laufschuhe je nach Vorerfahrung und Fußkraft oft in wenigen Wochen oder Monaten problemlos vonstatten geht.
Generell kann man aber empfehlen, mindestens zwei unterschiedliche Schuhtypen zu laufen, um dem Körper etwas Variation zu bieten. Die Schuhe halten dann auch entsprechend länger.

Übrigens: Wer bisher schon viel mit Spikes auf der Bahn unterwegs war (hier ist die Sohlenhöhe inzwischen auch streng limitiert) wird mit der Gewöhnung an minimalistische Straßenschuhe weniger Probleme haben. Mit der dünnen Sohle und geringen Sprengung wird man hier kein Thema haben, unter Umständen aber den härteren Untergrund spüren, falls man auf der federnden Tartanbahn lauftechnisch doch noch bissl „schlampiger“ unterwegs war.
Theoretisch kann man sogar einfach Bahnspikes (Langstrecken- oder Crossspikes, bitte keine Sprintspikes mit fixer Platte!) kaufen und diese ohne eingeschraubte Dornen auch auf Straße nutzen.

Wie lange halten Minimalschuhe?

Grundsätzlich muss man sich um die Dämpfungswirkung eines minimalistischen Schuhs keine Sorgen machen, denn
•  erstens bringt er schon ab Kauf wenig davon mit
•  und zweitens geht es ja darum, dass der Fuß die Dämpfung erlernt und übernimmt, kräftig genug dafür wird. Unter anderem deshalb sollte man die Gewöhnungsphase nicht abzukürzen versuchen.

Je flacher die Sohle und je geringer die Sprengung des Schuhs, desto weniger neigen die meisten Läufer zu Instabilität. Daher ist auch seltener irgendeine Form der Stütze und Fersenkappe notwendig, die Schuhe leiern im Fersenbereich viel weniger aus und halten damit länger.
Leider ist bei manchen Modellen (unabhängig vom Schuhtyp) aber so fragil gestaltet, dass die Schuhe kaputt gehen, bevor die Sohle „durch“ ist. Da hilft nur der „Sichtbefund“.
Während allerdings die modernen Carbon-Wettkampfschuhe durch ihr federndes Sohlenmaterial ihre Schnelligkeit durch Alterung schnell verlieren (je nach Läufer schon nach 100-300km), so werden Minimalschuhe nicht langsamer, weil sie ohnehin praktisch keine Federelemente aufweisen. Das erledigt in diesem Fall dann unser (gut trainierter) Fuß.

Aktuelle Beispielmodelle (Herstellerseiten, ich bekomme nirgendwo Provision):
•  Nike Rival Waffle 6
•  Altra Escalante Racer 2 

•  Joe Nimble Addict
•  
Topo Athletics ST 5

Alle Modelle gibt es auch als Damenmodell in entsprechenden Größen.
Diese entsprechen ungefähr dem, was man bis vor ein paar Jahren unter „Racing Flats“ bekommen hat.
Etwas extremer sind beispielsweise Schuhe von Vivobarefoot (Straßen- und Geländelaufschuhe praktisch ohne Dämpfung).
Übrigens: Wie schon im ursprünglichen Beispiel der Nike Free heißt es nicht immer etwas, wenn der Hersteller meint, sein Schuh wäre "minimalistisch". Man muss da schon selbst etwas genauer hinschauen!

Über Anregungen zu Ergänzungen freue ich mich - ich hoffe auch, dass die Liste nach und nach wieder länger wird!


(Bild: "Alte" Beispiele aus meinem Fundus)

Andere Artikel von mir